Das Angesicht – lat. „facies“ – Christi gehört zu den großen Rätseln des Christentums. Der Legende nach auf dem Kreuzweg nach Golgatha als Gesichtsabdruck auf dem „Schweißtuch der Veronika“ hinterlassen, hat es eine beispiellose Karriere erlebt: Vielfach reproduziert ist es zur Projektionsfläche und Urbild des „wahren Bildes Christi“ geworden – wie das berühmte Grabtuch von Turin ein „nicht von Menschenhand gemachtes“ Bild, von dem sich seine Betrachter heilsame Wirkungen erwarten und über dessen Echtheit sich die Wissenschaftler streiten. Wen oder was sehen wir auf diesen Bildern? Und was bedeutet ein „echtes Bild“ im Kontext unserer Medienwelt heute?
Der bulgarische Künstler Milko Pavlov greift die Frage nach der Wahrheit der Bilder auf: In großformatigen Frottagen aus Graphit und Wachskreide hinterlässt er abstrakte Abdruckbilder, die ein Gesicht allenfalls erahnen lassen. Was ist Realität? Was ist Projektion?
Die Frage ist auf Zukunft hin gestellt. Denn Milko Pavlovs Bilder kommen aus der Zukunft. Datiert im späten 21. und frühen 22. Jahrhundert, existieren sie streng genommen noch nicht – eine Rettungsmaßnahme, sagt Milko Pavlov, in der Hoffnung, dass es unsere vielfach gebeutelte Welt dann noch geben wird.
Hannes Langbein, 2020
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